Anfänglich sah es für mich aus, als sei Anarchismus in der Türkei ein exotisches neues Pflänzchen, das durch wundersame Umstände während der letzten hundert Jahre in der Türkei und in ihrem Vorläufer, dem Osmanischen Reich kein Vorkommen gehabt hätte. Daran tut auch die Beteiligung zumindest eines Türken an der Pariser Commune von 1871 keinen Abbruch Oberflächlich betrachtet ist der Anarchismus in der Türkischen Republik etwa zehn Jahre alt.
Bei meiner Vor-Ort-Recherche in Istanbul begann dieses Bild schon einen Sprung zu zeigen: Wie ich erfuhr, war schon 1935 in der Türkei Kropotkins "Ethik" erschienen. Der Übersetzer hieß Ahmed Agaoglu. Sein Enkel hat vor kurzem das mittlerweile wieder aufgelegte Werk überarbeitet.
Eine weitere Überraschung war der Fund eines Buches "Socialisme et Anarchie" von Osman Bey, Kibrizi-Zadé (eig: KIBRISSI-ZADE), Sophia 1895 (Bulgarien), in der Bibliographie des Buches von E.V. Zenker, "Der Anarchismus", Jena 1895. Das Original dieses Buches konnte bisher allerdings nicht aufgespürt werden.
So lange also gab es schon erste libertäre Impulse in Kleinasien. Als weiterer Vorläufer des Anarchismus hatte ein aus Izmir, Westturkei, stammender Intellektueller namens Baha Tevfik um 1913 ein Buch mit dem Titel "Philosophie des Individuums" veröffentlicht. Er nannte sich "Anarchist". Ein (historisch) bekannter Marxist namens Celal Nuri (ileri) fühlte sich übrigens bemüßigt, eine Broschüre mit dem Titel "Anarchismus, eine philosophische Lehre der Regierungslosigkeit" gegen Baha Tevfik zu veröffentlichen. Da dieser und dessen Freunde etliche Werke aus dem Deutschen übersetzt hatten -- vor allem naturwissenschaftliche, aber auch Nietzsche -- ist die Annahme nicht ganz unbegründet, daß seine libertären Ideen aus dem deutschen Sprachraum kamen. Zu dieser Zeit gab es schon intensive Kontakte und Kooperationen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich, die in einer militärischen Koalition unter deutschem Kommando im Ersten Weltkrieg (Geheimvertrag vom 2.8.1914) ihren vorläufigen Höhepunkt finden sollten. Mitten in Istanbul findet sich vor der Hagia-Sophia-Moschee (seit Mai 1934 Museeum) der "Brunnen der Deutschen", von kaiserlichen Architekten mit den Reichsinsignien versehen, der diese Verbindung sinnfällig macht.
Baha Tevfik, der von dem Anarchismus-Forscher Burhan Sayli als "naiver Anarchist" bezeichnet wird, hat neunzehn Bücher veröffentlicht und mit seinen Freunden unter anderen eine mehrfach verbotene satirische Zeitschrift Esek ("Der Esel") herausgegeben. Seine Überzeugung "Die Zukunft gehört dem Anarchismus.", ist heute im Begriff, ihre Bewährungsprobe zu erfahren. Tevfiks Schriften sind aller Wahrscheinlichkeit nach vergessen worden, da ab 3.11.1928 das Alphabet, das bis dahin arabisch war, europäisiert wurde (Gesetz zur Einführung der Lateinischen Schrift, Verbot des arabischen Alphabets!).
Ähnlich muß es der Zeitschrift ISTIRAK (sprich: Ischtiraq) ergangen sein, die sich im Untertitel Als "Journal Socialiste" bezeichnete. Der Herausgeber trug den Spitznamen "Sosyalist" Hilmi. In der um 1910 erschienen Zeitschrift traten verschiedene Positionen des Sozialismus auf. Diskussionen über Marxismus, Anarchismus und Anarchosyndikalismus fanden statt. Außerdem wurden in ISTIRAK Anarchistische Gedichte wie z.B. "Bakunin" von einem Dichter namens Hayati gebracht, ebenso wie Nachrichten über Proteste gegen die Hinrichtung des libertären spanischen Pädagogen Franzisco Ferrer und ein Gedicht für denselben. Aufgrund der weiten Verbreitung der französischen Sprache bei den Gebildeten, überwog damals der Einfluß des französischen Sozialismus. Die Opposition befand sich meist in Frankreich oder in der Schweiz (!) im Exil, und der Import revolutionärer Ideen erfolgte von eben dort.
Als Anmerkung sei hier erwähnt, daß es 1920 eine "Grüne Armee", eine selbstorganisierte bäuerliche Partisanenarmee gegen ausländische Interventionisten und die eigenen Unterdrücker gab. Wenn auch im großen und ganzen konservativ und islamistisch (grün!) orientiert, gab es in ihr doch deutliche sozialistische, teils libertäre Ansätze, wie die Anstrebung eines Rätestaates. Selbstverständlich wurde diese Armee von den Kemalisten zerschlagen, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatte.
Auch die oben erwähnte Kropotkin-Übersetzung von 1935 scheint keine größeren Wirkungen gezeitigt zu haben. Dennoch muß es seit damals gewisse libertäre Impulse bei verschiedenen Intellektuellen gegeben haben, die jedoch aufgrund der erzautoritären Gesellschaftsstruktur der Türkei unter den Osmanen sowie den "Jungtürken" Atatürks und deren Militärherrschaft nie eine Chance hatten, zum Mainstream politischer Veränderung zu werden. Wie auch in Deutschtand trafen der Marxismus-Leninismus ebenso wie der darauffolgende Stalinismus und Maoismus mehr den Zeitgeist.
Dennoch erschienen vereinzelt weitere libertäre Bücher. Zum Beispiel 1961 das Buch des französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon "Was ist das Eigentum?" Seine provokative Antwort kennen wir "Diebstahl!" Ein anderes, in den 60er Jahren erschienenes Buch ist "Staatlichkeit und Anarchie" von Bakunin (Verlag: Kavram Yayinevi).
Die ganzen 60er Jahre waren gekennzeichnet von einem Gemisch verschiedenster linker Gruppen und Tendenzen in allen Rotschattierungen, von denen die autoritären Richtungen am stärksten Fuß faßten. Es gab etwa 150 Fraktionen. Die Hauptströmungen waren kemalistische KommunistInnen, MaoistInnen und GuevaristInnen, von denen letztere eher antistalinistisch eingestellt waren. Alle Gruppierungen hatten eine große Anhängerschaft und bewaffnete Kampfgruppen. Auflagen von Wochenblättern in Höhe von 50,000 bis 100,000 waren keine Seltenheit. Alleine bei den GuevaristInnen existierten mehrere solcher Blätter nebeneinander.
Antiautoritäre Tendenzen waren eher marginal. Im Jahre 1960 erschien eine Zeitschrift mit dem Namen "Yeni Ufuklar" (Neue Horizonte), in der mehrere Artikel über Anarchismus auftauchten. Der Autor war ein Trotzkist namens Masis Kürkçügil. Im Jahr 1967 erschien eine gekürzte Fassung von George Woodcocks Buch "Anarchismus" sowie ein Aufsatz Kropotkins "Anarchismus --seine Philosophie und sein Ideal" (Vortrag vom 6.3.1896, Paris, Tivoli).
Mit den beiden Militärputschen in der Turkei (1971 und 1980), die jeweils eine blutige Repressionswelle und die Liquidation aller bewaffneten Gruppen der Linken nach sich zogen, stellte sich eine Zeitlang eine trügerische Friedhofsruhe ein. Anfang 1980 hatte der türkische Generalstabschef Kenan Evren erklärt, man müsse:"angesichts von Anarchismus, Terrorismus und Separatismus die nationale Einheit wiederherstellen.", nachdem er vorher vor einem "Generalaufstand von Anarchisten und Separatisten" gewarnt hatte. Zu dieser Zeit konnte allerdings keine Rede von irgendwelchen relevanten anarchistischen Bestrebungen in der Türkei sein.
Sofort nach dem Ende der Militärdiktaturen schossen die linken Panteien und Strömungen wieder wie Pilze in einer feuchtwarmen Spätsommernacht aus dem Boden. Auf dem größten Platz Istanbuls demonstrierten am 1 Mai 1977 rund 500,000 Menschen. Nach einer Provokation schoß die Polizei in die Menge -- Folge: 36 Tote. (Auch 1994 gab es an gleicher Stelle 17, und 1996 drei Erschossene.)
In einer antistalinistischen marxistischen Zeitschrift namens "Birikim" (zwischen 1973 und 1980 und wieder nach der Militärdiktatur) erschien 1994 ein Artikel über den US-Ökoanarchisten Murray Bookchin und über Hans Magnus Enzensberger, für dessen Buch (Der kurze Sommer...) ein antistalinistischer Theoretiker, Ömer Laçiner, ein ausgezeichnetes Vorwort schrieb.
Aber erst Mitte der 80er Jahre begann sich so etwas wie eine türkische anarchistische Bewegung um die Zeitschrift KARA (Schwarz) zu bilden.
Warum aber tauchte der Anarchismus als neues Phänomen erst in den 80er Jahren in der Türkei auf? Als Erklärung bietet sich an, daß sowohl die westliche Fortschrifftsideologie mit ihren offensichtlichen Defiziten im Sozialen und mit ihrer fortschreitenden Ausbeutung und Zerstörung der (Um)Welt, als auch die sich als diktatorisch, korrupt und unwirtschaftIich entpuppenden Systeme marxistischer Weltsicht keine positive Identifkation für eine lebbare Utopie mehr boten. Dankbar wurde von kritisch suchenden Geistern die Botschaft des Anarchismus vom grundlegenden Wert des Individuums als freiem und zu befreienden Menschen ebenso wie der Angriff gegen hierarchische Denkmuster aufgegriffen. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß als erstes Buch eines anarchistischen Verlages " Kronstadt 1921" von Ida Mett erschien (Sokak Yayinlari). Der Wert des Buches lag vor allem darin, daß es den weitgehend dogmatisch orientierten Linken in der Türkei eine fundamental kritische Sicht des Leninismus, der Sowjetunion und der Bolschewistischen Partei vorlegte.
Vorläufer der anarchistischen Initiativen sind in der Zeitschrift. "Yeni Olgu" ("Tatsache" - in ihr erschien eine ironisierende Kritik marxistischer Geschichtsphilosophie), die nur kurze Zeit während der zweiten Militärdiktatur existierte und der kritischen Jugend als Plattform diente, und dem Monatsmagazin "Akintiya Karsi" als eindeutig antiautoritärem Blätt zu sehen. Aus letzterem war der Sokak-Verlag hervorgegangen. Neben Feminismus, Ökologie und Antimilitarismus fingen einige Menschen an, sich mit den Ideen des Anarchismus näher zu befassen.
In marxistischen Kreisen wurden diese Anstöße z.T. mit Interesse registriert und intern mit einigem Wohlwollen diskutiert. Dennoch wurde der Anarchismus als utopischer Edelsozialismus verworfen, der eben nicht zu realisieren sei.
Zu den Merkwürdigkeiten der Geschichte des türkischen Anarchismus gehört es, daß im März 1981 die vermutlich erste anarchistische Zeitschrift auf Türkisch in Deutschland erschien: ISYAN (iSYAN). Sie wurde in einer einzigen Ausgabe in Zusammen arbeit mit dem ADZ (Anarchistisches Dokumentations Zentrum) Wetzlar, heute in Neustadt/W. als ANARCHIV, in einer Auflage von 1,000 Stück einmalig herausgebracht Aus dem vereinzelten Kontakt mit türkischen Menschen im damaligen anarchistischen Laden in Wetzlar, entstand aber keine feste Gruppe.
1986 begannen einige jüngere Mitglieder des Sokak-Verlages mit der Herausgabe von KARA (Schwarz), dem ersten regelmäßig erscheinenden anarchistischen Magazin in der türkischen Geschichte. KARA stellte (natürlich) das allgemeine Staatsverständnis in Frage und beschäftigte sich u.a. mit Themen wie Erziehung und Schulwesen. Gleichzeitig wurde das Individuum zu selbstverantwortlichem Handeln und zur Beendigung bequemer Passivität und Autoritätshörigkeit aufgefordert. KARA machte Schluß mit der Idealisierung der Arbeiterklasse als revolutionärem Subjekt mit historischer Mission und attackierte die grundlegenden Glaubenssätze von Staat, Gesellschaft und vermeintlichen RevolutionärInnen radikal. So notwendig diese Haltung war, so wenig trug sie jedoch den tagespolitischen Bedürfnissen Rechnung. Den desorientierten Ex-MarxistInnen-LeninistInnen bot die anarchistische Bewegung keine alternative Organisations- möglichkeit, und die wichtige Frage des kurdischen Befreiungskampfes blieb ohne perspektivische Idee und konkreten Gegenentwurf. So wurde KARA nach der zwölften Ausgabe im November 1987 eingestellt, derweil sich auch eine mächtige Konfusion und Zersplitterung unter ihren großtenteils studentischen UnterstützerInnen eingestellt hatte. (Als Ausleger von KARA waren noch zwei Ausgaben von "kara sanat", einer künstlerisch ambitionierten Zeitschrift mit den Schwerpunkten Ökologie und Pädagogik erschienen.) Vier autonome Gruppen bildeten sich aus den Überresten KARAs, von denen eine das nächste Zeitschriftenprojekt EFENDiSiZ (herrschaftslos) startete, das an KARA anknüpfte. Auch die anderen Gruppen initiierten weiter Dinge, und eine von ihnen begann das "Atölye A-Projekt", das später die Zeitschrift AMARGi (sumerisch: Freiheit) herausgab.
Im Jahr 1989 wurde auch EFENDISIZ eingestellt und bis 1991 gab es keine eigene anarchistische Zeitschrift mehr in der Türkei. Dennoch ging die anarchistische Publizistik weiter. Das Interesse am Thema war geweckt, und vergleichbar der Nach-68er-Zeit in Deutschland begannen einige nicht-anarchistische Verlage, anarchistische Bücher zu produzieren So erschien im "Metis-Verlag" das zweibändige Buch des US-Historikers Paul Avrich mit Portraits von AnarchistInnen in der Russischen Revolution.
Zusammen mit der Vereinigung gegen den Krieg" bfidete das "Atölye A-Projekt" 1992 die "Amargi-Gemeinschaft" und brachte als solche die unregelmäßig erscheinende Monatszeitschrift AMARGi heraus. Im folgenden Jahr wurde ein neues anarchistisches Zeitschriftenprojekt in Istanbul ins Leben gerufen: ATES HIRSIZI ( "Feuerdieb", eine Namensadaption jenes Halbgottes aus der Prometheus-Sage, der den Menschen das Feuer brachte, dafür aus dem Götterhimmel Olymp verstoßen, und zu ewigen Qualen an eine Felswand gekettet wurde). Gleichzeitig gründete eine andere Gruppe den anarchistischen Verlag "Birey Yayinlari". AMARGi und ATES HIRSIZI unterschieden sich aber von Anfang an gnundlegend. Erstere beschäftigte sich vor allem mit Pazifismus und Antimilitarismus sowie dem Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, während die "Feuerdiebe" das Problem der sozialen Revolution, die kurdische Nationalfrage und das Organisationsproblem in den Mittelpunkt stellten und sich grundsätzlich gegen den Pazifismus wandten.
Dennoch schlug AMARGi im Sommer 1994 die von allen anarchistischen Richtungen gemeinsame Herausgabe einer neuen Zeitschrift zu tagespolitischen Themen vor. Obwohl die Amargi-Gemeinschaft die GründerInnenrunde, zu der auch eine Gruppe aus Ankara gehörte, verließ, nahm das Projekt in dem Magazin A-POLiTiKA (@-politisch) Gestalt an, das heute noch existiert (letzte Ausgabe: Mai 1996). Fatalerweise wurde die neue Zeitschrift aber kein an tagespolitischen Fragen orientiertes Organ, sondern wiederum eine Theorieschrift, die sich mit den Fragen von Organisation und Kampfrichtung beschäftigte.
Am 1. Mai 1993 traten die AnarchistInnen zum ersten Mal massiv mit schwarzen Fahnen und Transparenten auf der Demonstration in Istanbul, Ankara und Izmir auf, und stießen auf einhellig großes Interesse. Dies, zumal die neue Gruppe, die niemand so richtig einordnen konnte, mit selbstgedichtem Singen, Tanzen auf der Straße, Hüpfen, frechen Parolen und witzigen Sprüchen im Kontrastprogramm zu den hölzern wirkenden dogmatischen Gruppen stand und die LacherInnen auf ihrer Seite hatte. Der Aufmerksamkeitswert des neuen Phänomens war so groß, daß eine Reihe bürgerlicher Medien breit berichteten und so ein weiterer Propagandaeffekt für die Präsenz von AnarchistInnen in der Türkei zustande kam. Tatsächlich berichten bis jetzt immer wieder bürgerliche Blätter oder Sender in großer Aufmachung über anarchistische Aktivitäten.
Selbst die Repression des für seine Brutalität und Rechtsmißachtung bekannten türkischen Polizeiapparates hielt sich bisher in Grenzen. Die anarchistische Gruppe in Ankara wurde zwar einmal drei Tage in Haft genommen und intensiv verhört, aber im großen und ganzen "fair" behandelt. Natürlich muß mensch mit der Generalisierung socher Äußerungen vorsichtig sein, da Leute, die in der Haft mißhandelt wurden, oft aus Furcht in der Öffentlichkeit darüber schweigen.
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