Das A im Halbmond
Anarchismus in der Türkei

"Leben einzeln und frei
wie ein Baum und geschwisterlich
wie ein Wald ist unsere Sehnsucht"

Nazim Hilmet

Die Türkei, hauptsächlich auf dem halbinselartigen Kleinasien (Anatolien -- der europäische Teil ist Thrakien) gelegen, ist ein Land der Gegensätze. Die über sechzig Millionen Menschen, die in ihr leben, sind ein buntes Gemisch von Sprachen, Kulturen und Religionen. Dies liegt in der Geschichte der Region und des Osmanischen Reiches begründet, das auf dem Höhepunkt seiner Macht bis weit nach Westeuropa hineinreichte und dort tiefe kulturelle Spuren hinterließ. Eines der Beispiele dafür ist der Alcazar in Spaniens Granada. Während in Westeuropa das römisch-christliche Mittelalter vor sich hin dumpfte, hatten die Mauren das Erbe des Römischen, Griechischen und Persischen Reiches aufgegriffen, und die Wissenschaften blühten. Für ketzerische Anwandlungen solcher Art gab es im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" Folter, Kerker und Scheiterhaufen. Erst die Kreuzritter reimportierten vor 900 Jahren klammheimlich verlorengegangenes und neues Wissen von ihren Morgenlandfahrten, diesen imperialistischen Raub- und Metzgerzügen im Namen der und DES Herren.

Die Hauptstadt des Türkenreiches war das alte Konstantinopel (Byzanz), dessen Verballhornung der Stadt Istanbul ihren heutigen Namen gab. Konstantinopel (die "Stadt Kaiser Konstantins") bzw. Ost-Rom, war die Hauptstadt des Oströmischen Reiches, die ihren Marmor schon auf die Reste anderer Kulturen getürmt hatte. Hier, an der Durchfahrt zum Schwarzen Meer, verlief einer der wichtigsten Handelswege der alten Welt. Hier endet Europa und beginnt Asien. Diese Gegend war mehr als ein Jahrtausend in ihrem westlichen Teil von den Griechen besiedelt worden, und wurde so ein ständiger Zankapfel zwischen den Persern und ihnen. Schon in der Zeit des 7. bis 6. Jh. vor Christus etablierten sich im östlichen Kleinasien die indogermanischen ArmenierInnen. Sie bildeten eine zunächst schamanische Gesellschaft, die sich mit der Hochkultur der ansässigen Urartäern (biblisches Land Ur) vermischte, um dann eine der ältesten eigenständigen christlichen Kulturen zu werden (zwischen 200 und 300 n.Chr.). Diese wurde nach eineinhalb wechselvollen Jahrtausenden im ersten Weltkrieg von den Türken (und Kurden) durch einen Holocaust vernichtet (1915-18), in dem etwa eineinhalb Millionen christliche und schamanische ArmenierInnen in einem bis dahin beispiellos grausamen Gemetzel ausgelöscht wurden (lies dazu: Franz Werfel, Die vierzig Tage des Musa Dagh). Im Gegenzug wurden 1915-18 allerdings 600,000 KurdInnen in Russisch-Armenien ermordet.

Aber auch verschiedene Araberstämme, JüdInnen und anatolische Bergvölker, PerserInnen, GeorgierInnen, GriechInnen und KurdInnen etc. gab und gibt es im türkischen Staatsgebiet. Es sollen heute noch um die 35 Sprachgruppen dort vorhanden sein.

Nach dem Zerfall des alten osmanischen Staatsgebietes (Balkankriege 1912/13) vor dem Ersten Weltkrieg (nach der Jüngtürkischen Revolution 108/09, Abschaffung des Sultanats) kam in der Zeit ab 1919-21 der von den "Jungturken" stark beeinflußte "Kemal Atatürk" (Mustafa - Ehrentitel: "der Vortreffliche, Vater der Türken") an die Macht, der als faschistoider "Erziehungs-Diktator" die heutige westwärts gewandte Türkei formte. Um ihn bildete sich ein immenser Führer-Kult. Seine laizistische "Kemalistische" Bewegung, die aus europäisch gebildeten Militärs bestand, war zwar nationalchauvinistisch und rassistisch eingestellt, hatte aber auch progressive, in Teilen sogar sozialistische Züge (Zusammenarbeit mit der SU in den 20ern und Einführung von z.T. Staatswirtschaft). So setzte sie die Trennung von Religion und Staat durch (10.4.1928), säkularisierte das geistliche Vermögen (3.3.1924), führte gar das Frauenwahlrecht ein (1930 und 1934: 17 Frauen ziehen ins Parlament), organisierte ein europäisch ausgerichtetes Bildungs- und Rechtssystem nach schweizerisch-italienisch- (faschistischem)-deutschem Muster und eine in ihren Grundzügen moderne, republikanische Verwaltung, die allerdings völlig auf dem Militär fußte und daher von diesem abhängig war und es bis auf den heutigen Tag ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die oberste Fuhrung der Jungtürken fast ausschließlich aus "Ausländern" bestand: Männern, die aus den Randbereichen türkischer Herrschaft, wie z.B. Bosnien und Griechenland, stammten. Unter diesem Aspekt sind die Pogrome der Jungtürken gegen andere Ethnien besonders erstaunlich. Der kemalistischen Führung ging es aber weniger, wie den Nazis in Deutschland, um die physische Auslöschung anderer Völker, als um deren Nivellierung und Unterwerfung unter das Konstrukt "Türke", "der" in jeder Beziehung der Beste, die Wurzel aller Kultur, Sprache und allen Fortschritts sein sollte: das klassische Produkt nationalen Größenwahns.

Die heutige Hauptstadt der Türkei, Ankara (ernannt: 13.10.1923), ist eine Kunstgründung der neuen Herrscher. Kemal Atatürk suchte eine zentrale Stelle des Reiches aus und baute die neue Metropole um das ehemals winzige Städchen Ankara.

Als fast kurios ist die Tatsache zu bezeichnen, daß in der Turkei Kommunisten seit 1921 gnadenlos verfolgt wurden (obwohl die SU vorher und danach die Kemalisten unterstützte), dennoch aber ab 1933 eine große Zahl von deutschen Antifaschisten in der Türkei Zuflucht fand - u.a. Ernst Reuter und Bruno Taut).

Eine wichtige Rolle für die religiöse Auseinandersetzung in der Türkei spielen die sogenannten "Aleviten", eine Gruppe islamischer "Sekten", die nach dem Kriegshelden und Cousin des Propheten Mohammed, nämlich Scheik (Hazret-i = "Heiliger") "Ali" benannt wird. Jener wird von den Schiiten, zu denen die Aleviten gehören, als legitimer Nachfolger Mohammeds angesehen, wurde aber, wie auch seine beiden Söhne, von der Konkurrenz ermordet. Und zwar in einer Moschee.Bei den Aleviten, so sagt man ihnen nach, mischen sich verschiedene Religionselemente: islamische, christliche, und schamanische. Sie gelten als eine Art islamischer "Protestanten" und sind weniger orthodox und weltzugewandter als die Sunniten. So glauben sie als Pantheisten an eine Aligegenwart und das Allesumfassende Allahs= Gottes und halten es nicht für nötig bestimmte Rituale zu vollziehen und Gebetsräumlichkeiten wie Moscheen aufzusuchen. Da Gott überall und in allem ist, kann man uberall beten. Der Koran ist für die Aleviten auch kein "heiliges Buch", da die Sunniten diesen durch Hinzufügungen geändert haben.

Die Glaubensrichtung der Aleviten umfasst ca. 20 Millionen Menschen in der Türkei und somit ein Drittel der Bevölkerung. Dennoch waren und sind die Aleviten wegen ihres Glaubens noch heute schweren Verfolgungen ausgesetzt. Als Alevit darf man sich nur hinter vorgehaltener Hand bekennen. Die Aufgeschlossenheit der alevitischen Menschen läßt viele Linke denken, daß bei ihnen ein gegen die bestehenden Machtverhältnisse mobilisierbares Potential vorhanden ist, zumal die Aleviten in der Vergangenheit immer die Linke unterstütz haben.

Eine weitere "Minderheit" in der Türkei stellen die KurdInnen / Zaza dar. Sie umfassen die Kleinigkeit von weiteren rund 20 Millionen Menschen im türkischen Staatsgebiet, von denen regierungsoffiziell noch 1975 nur 2-8 Mio. zugegeben wurden Die KurdInnen (zu "Bergtürken" umdeklariert) siedelten schon mindestens 1,500 Jahre vor den Turkvölkern im heutigen türkischen Staatsgebiet und gehören auch zur indogermanischen Sprachfamilie. Alle drei Schritte "stolpert" mensch über einEn von ihnen. Seit 1924 ist die kurdische Sprache offiziell verboten und wird in ihrer Existenz geleugnet, ebenso wie lange Zeit die pure Existenz eines kurdischen Volkes.. Wegen der katastrophalen wirtschaftlichen Lage Kurdistans sind viele arbeitslose Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und in anderen Teilen der Türkei zu miserablen Konditionen oder im Ausland zu arbeiten. Schon in den 20er und 30er Jahren kam es zu großen Kurdenaufständen um vorher versprochene Autonomie mit z.T. islamisch-restaurativem Charakter. In den Kämpfen und Massakern bei denen 1930 massiv Giftgas eingesetzt wurde, kamen nach Schätzungen bis zu 1.5 Millionen KurdInnen um, weitere 1.5 Millionen wurden nach Zentral-Anatolien und anderen Gebieten "umgesiedelt". (Ataturk: "Wir werden die Kurden wie die Armenier wegmachen") Ein interessanter Aspekt von Seiten des Anarchismus ist übrigens die traditionelle Stammesorganisation der KurdInnen, die von dem Wissenschaftler Christian Sigrist als "Regulierte Anarchie" (Walter Verlag, Freibg./Brsg. 1967) bezeichnet wurde. Ähnlich anderer Dorfstrukturen in anderen Teilen der Welt, war auch bei den KurdInnen die gemeinsame Bewirtschaftung des Bodens und gemeinsamer Besitz deselben Sitte. Die traditionelle politische Organisation könnte vielleicht als patriarchal- basisdemokratisches Stammesräte-System bezeichnet werden. Reste solcher Strukturen müssen noch vorhanden sein wie ich aus den Andeutungen von Genossen aus Istanbul entnehme, und in denen diese gewisse Hoffnungsträger für die Verbreitung anarchistischer Ideen sehen.

Bekanntlich befindet sich auch heute ein großer Teil des kurdischen Volkes Freiheitskampf um Autonomie gegen den türkischen Staat. Auch dies ist sehr nachvollziehbarer Grund zum Weggehen. Da in der Turkei Wehrpflicht herrscht, ist jeder junge Mann früher oder spater vor die Frage gestellt, gegen die aufstandischen Kurden zu kämpfen, auch wenn er selbst Kurde ist (Kurden werden allerdings heute wegen vielfacher Desertion zur PKK i.d.R nicht mehr "an die Front" geschickt). Daher fliehen Tausende von jungen Männern vor dem Kriegsdienst aus der Turkei. Wem das nicht gelingt, hat nur eine Wahl: entweder die türkische Armee oder die PKK. Ohne die PKK zu lieben wählen viele junge Männer diese Seite, denn es wäre schlimmer, in der türkischen Armee dienen zu müssen, gegen die ein preussischer Kasernenhof sich wie ein Jungmädcheninternat ausnehmen muß. Demütigung, Folter und Vergewaltigung sind an der Tagesordnung. Kaum einer übersteht diese und die unmenschlichen Bedingungen des Bürgerkrieges ohne ernsthafte psychische Schäden.

Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß sich der türkische Staat eine zeitlang wegen der Wehrunwilligkeit vieler seiner jungen Männer gezwungen sah, gegen Freikauf von 2-10,000 DM Wehrpflichtigen eine ultrakurze Wehrdienstzeit von 1-2 Monaten anzubieten. So konnten (Kriegs)Gelder kassiert, dem Gesetz genüge getan werden und eine unschöne Statistik von tausenden Deserteuren mehr vermieden werden - sehr pragmatisch!


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