Anfänglich sah es für mich aus, als sei Anarchismus in der Türkei ein exoti-

sches neues Pflänzchen, das durch wundersame Umstände während der

letzten hundert Jahre in der Türkei und in ihrem Vorläufer, dem Osmani-

schen Reich kein Vorkommen gehabt hätte. Daran tut auch die Beteiligung

zumindest eines Türken an der Pariser Commune von 1871 keinen Ab-

bruch Oberflächlich betrachtet ist der Anarchismus in der Türkischen

Republik etwa zehn Jahre alt.<p>

Bei meiner Vor-Ort-Recherche in Istanbul begann dieses Bild schon einen

Sprung zu zeigen: Wie ich erfuhr, war schon 1935 in der Türkei Kropotkins

<i>"Ethik"</i> erschienen. Der Übersetzer hieß Ahmed A ao lu. Sein Enkel hat vor

kurzem das mittlerweile wieder aufgelegte Werk überarbeitet.<p>

Eine weitere Überraschung war der Fund eines Buches <i>"Socialisme et

Anarchie"</i> von Osman Bey, Kibrizi-Zadé (eig: KIBRISS -Z= DE), Sophia 1895

(Bulgarien), in der Bibliographie des Buches von E.V. Zenker, <i>"Der Anar-

chismus"</i>, Jena 1895. Das Original dieses Buches konnte bisher allerdings

nicht aufgespürt werden.<p>

So lange also gab es schon erste libertäre Impulse in Kleinasien. Als weite-

rer Vorläufer des Anarchismus hatte ein aus Izmir, Westturkei, stammender

Intellektueller namens Bah> TevfT k um 1913 ein Buch mit dem Titel

<i>"Philosophie des Individuums"</i> veröffentlicht. Er nannte sich "Anarchist". Ein

(historisch) bekannter Marxist namens Cel> l Nf rT (ileri) fühlte sich übrigens

bemüßigt, eine Broschüre mit dem Titel <i>"Anarchismus, eine philosophische

Lehre der Regierungslosigkeit"</i> gegen Bah> TevfT k zu veröffentlichen. Da

dieser und dessen Freunde etliche Werke aus dem Deutschen übersetzt

hatten -- vor allem naturwissenschaftliche, aber auch Nietzsche -- ist die

Annahme nicht ganz unbegründet, daß seine libertären Ideen aus dem

deutschen Sprachraum kamen. Zu dieser Zeit gab es schon intensive

Kontakte und Kooperationen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem

Osmanischen Reich, die in einer militärischen Koalition unter deutschem

Kommando im Ersten Weltkrieg (Geheimvertrag vom 2.8.1914) ihren vor-

läufigen Höhepunkt finden sollten. Mitten in Istanbul findet sich vor der

Hagia-Sophia-Moschee (seit Mai 1934 Museeum) der "Brunnen der Deut-

schen", von kaiserlichen Architekten mit den Reichsinsignien versehen, der

diese Verbindung sinnfällig macht.<p>

Bah> TevfT k, der von dem Anarchis-

mus-Forscher Burhan Ô ayli als "naiver Anar-

chist" bezeichnet wird, hat neunzehn Bücher

veröffentlicht und mit seinen Freunden unter

anderen eine mehrfach verbotene satirische

Zeitschrift <i>EÕ ek</i> ("Der Esel") herausgegeben.

Seine Überzeugung "Die Zukunft gehört dem

Anarchismus.", ist heute im Begriff, ihre Bewäh-

rungsprobe zu erfahren. TevfT ks Schriften sind

aller Wahrscheinlichkeit nach vergessen wor-

den, da ab 3.11.1928 das Alphabet, das bis

dahin arabisch war, europäisiert wurde (Gesetz

zur Einführung der Lateinischen Schrift, Verbot

des arabischen Alphabets!).<p>

Ähnlich muß es der Zeitschrift lÔ TS R= K (sprich:

Ischtiraq) ergangen sein, die sich im Untertitel

Als "Journal Socialiste" bezeichnete. Der Herausgeber trug den Spitznamen

"Sosyalist" Hilmi. In der um 1910 erschienen Zeitschrift traten verschiedene

Positionen des Sozialismus auf. Diskussionen über Marxismus, Anarchis-

Mus und Anarchosyndikalismus fanden statt. Außerdem wurden in lÔ TS R= K

Anarchistische Gedichte wie z.B. <i>"Bakunin"</i> von einem Dichter namens

HayatT gebracht, ebenso wie Nachrichten über Proteste gegen die Hinrich-

tung des libertären spanischen Pädagogen Franzisco Ferrer und ein Gedicht

für denselben. Aufgrund der weiten Verbreitung der französischen Sprache

bei den Gebildeten, überwog damals der Einfluß des französischen Sozia-

lismus. Die Opposition befand sich meist in Frankreich oder in der Schweiz

(!) im Exil, und der Import revolutionärer Ideen erfolgte von eben dort.<p>

Als Anmerkung sei hier erwähnt, daß es 1920 eine "Grüne Armee", eine

selbstorganisierte bäuerliche Partisanenarmee gegen ausländische Inter-

ventionisten und die eigenen Unterdrücker gab. Wenn auch im großen und

ganzen konservativ und islamistisch (grün!) orientiert, gab es in ihr doch

deutliche sozialistische, teils libertäre Ansätze, wie die Anstrebung eines

Rätestaates. Selbstverständlich wurde diese Armee von den Kemalisten

zerschlagen, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan hatte.<p>

Auch die oben erwähnte Kropotkin-Übersetzung

von 1935 scheint keine größeren Wirkungen

gezeitigt zu haben. Dennoch muß es seit

damals gewisse libertäre Impulse bei verschie-

denen Intellektuellen gegeben haben, die

jedoch aufgrund der erzautoritären Gesell-

schaftsstruktur der Türkei unter den Osmanen

sowie den "Jungtürken" Atatürks und deren

Militärherrschaft nie eine Chance hatten, zum

Mainstream politischer Veränderung zu werden.

Wie auch in Deutschtand trafen der Marxis-

mus-Leninismus ebenso wie der darauffolgende

Stalinismus und Maoismus mehr den Zeitgeist.<p>

Dennoch erschienen vereinzelt weitere libertäre Bücher. Zum Beispiel 1961

das Buch des französischen Anarchisten Pierre Joseph Proudhon <i>"Was ist

das Eigentum?"</i> Seine provokative Antwort kennen wir "Diebstahl!" Ein

anderes, in den 60er Jahren erschienenes Buch ist <i>"Staatlichkeit und Anar-

chie"</i> von Bakunin (Verlag: Kavram Yay2 nevi).<p>

Die ganzen 60er Jahre waren gekennzeichnet

von einem Gemisch verschiedenster linker

Gruppen und Tendenzen in allen Rotschattie-

rungen, von denen die autoritären Richtungen

am stärksten Fuß faßten. Es gab etwa

150 Fraktionen. Die Hauptströmungen waren

kemalistische KommunistInnen, MaoistInnen

und GuevaristInnen, von denen letztere eher

antistalinistisch eingestellt waren. Alle Grup-

pierungen hatten eine große Anhängerschaft

und bewaffnete Kampfgruppen. Auflagen von

Wochenblättern in Höhe von 50,000 bis

100,000 waren keine Seltenheit. Alleine bei

den GuevaristInnen existierten mehrere

solcher Blätter nebeneinander.<p>

Antiautoritäre Tendenzen waren eher marginal. Im Jahre 1960 erschien eine

Zeitschrift mit dem Namen <i>"Yeni Ufuklar" (Neue Horizonte), in der mehrere

Artikel über Anarchismus auftauchten. Der Autor war ein Trotzkist namens

Masis Kürkçügil. Im Jahr 1967 erschien eine gekürzte Fassung von George

Woodcocks Buch <i>"Anarchismus"</i> sowie ein Aufsatz Kropotkins <i>"Anarchismus

--seine Philosophie und sein Ideal"</i> (Vortrag vom 6.3.1896, Paris, Tivoli).<p>

Mit den beiden Militärputschen in der Turkei (1971 und 1980), die jeweils

eine blutige Repressionswelle und die Liquidation aller bewaffneten Gruppen

der Linken nach sich zogen, stellte sich eine Zeitlang eine trügerische

Friedhofsruhe ein. Anfang 1980 hatte der türkische Generalstabschef Kenan

Evren erklärt, man müsse:"angesichts von Anarchismus, Terrorismus und

Separatismus die nationale Einheit wiederherstellen.", nachdem er vorher

vor einem "Generalaufstand von Anarchisten und Separatisten" gewarnt

hatte. Zu dieser Zeit konnte allerdings keine Rede von irgendwelchen

relevanten anarchistischen Bestrebungen in der Türkei sein.<p>

Sofort nach dem Ende der Militärdiktaturen schossen die linken Panteien

und Strömungen wieder wie Pilze in einer feuchtwarmen Spätsommernacht

aus dem Boden. Auf dem größten Platz Istanbuls demonstrierten am 1 Mai 1977 rund 500,000 Menschen. Nach einer Provokation schoß die Polizei in

die Menge -- Folge: 36 Tote. (Auch 1994 gab es an gleicher Stelle 17, und

1996 drei Erschossene.)<p>

In einer antistalinistischen marxistischen Zeitschrift namens <i>"Birikim"

(zwischen 1973 und 1980 und wieder nach der Militärdiktatur) erschien 1994

ein Artikel über den US-Ökoanarchisten Murray Bookchin und über Hans

Magnus Enzensberger, für dessen Buch (Der kurze Sommer...) ein

antistalinistischer Theoretiker, Ömer Laçiner, ein ausgezeichnetes Vorwort

schrieb.<p>

Aber erst Mitte der 80er Jahre begann sich so etwas wie eine türkische

anarchistische Bewegung um die Zeitschrift KARA (Schwarz) zu bilden.<p>

Warum aber tauchte der Anarchismus als neues Phänomen erst in den 80er

Jahren in der Türkei auf? Als Erklärung bietet sich an, daß sowohl die

westliche Fortschrifftsideologie mit ihren offensichtlichen Defiziten im

Sozialen und mit ihrer fortschreitenden Ausbeutung und Zerstörung der

(Um)Welt, als auch die sich als diktatorisch, korrupt und unwirtschaftIich

entpuppenden Systeme marxistischer Weltsicht keine positive Identifkation

für eine lebbare Utopie mehr boten. Dankbar wurde von kritisch suchenden

Geistern die Botschaft des Anarchismus vom grundlegenden Wert des

Individuums als freiem und zu befreienden Menschen ebenso wie der Angriff

gegen hierarchische Denkmuster aufgegriffen. So ist es nicht weiter

verwunderlich, daß als erstes Buch eines anarchistischen Verlages

<i>" Kronstadt 1921"</i> von Ida Mett erschien (Sokak Yay2 nlari). Der Wert des

Buches lag vor allem darin, daß es den weitgehend dogmatisch orientierten

Linken in der Türkei eine fundamental kritische Sicht des Leninismus, der

Sowjetunion und der Bolschewistischen Partei vorlegte.<p>

Vorläufer der anarchistischen Initiativen sind in der Zeitschrift. "Yeni 0lgu"

("Tatsache" - in ihr erschien eine ironisierende Kritik marxistischer

Geschichtsphilosophie), die nur kurze Zeit während der zweiten

Militärdiktatur existierte und der kritischen Jugend als Plattform diente, und

dem Monatsmagazin "Ak2 nt2 ya Karsi" als eindeutig antiautoritärem Blätt zu

sehen. Aus letzterem war der Sokak-Verlag hervorgegangen. Neben

Feminismus, Ökologie und Antimilitarismus fingen einige Menschen an, sich

mit den Ideen des Anarchismus näher zu befassen. <p>

In marxistischen Kreisen wurden diese Anstöße z.T. mit Interesse registriert

und intern mit einigem Wohlwollen diskutiert. Dennoch wurde der

Anarchismus als utopischer Edelsozialismus verworfen, der eben nicht zu

realisieren sei.<p>

Zu den Merkwurdigkeiten der Geschichte des turkischen Anarchisrgl, gehbrt es,

daB fm M9rz 1981 die vermutlich erste ananah~st~sche Ze~bchr~r

auf Turkisch in Deutschland erschien: SYAN (iSYAN). Sie wurde in einer | e n

zfge n Au sga be i n Z u sam men a rbeit m it dem ADZ (An arch i sti sches L

Dokumentations Zentrum) Wetzlar, heute in Neustadt/W. als ANARCHtV, in

fffflmeiner Auflage von 1.000 Stuck einmalig herauspebracht Aus dem

~nfeneinzelten Kontakt mit turkischen Menschen im damaligen anarchistischen 'll

aden in Wetzlar, entstand aber keine feste Gruppe

1986 begannen einige jungere Mitglieder des Sokak-Verlages mit der mrausgabe von

KARA (Schwarz), dem ersten regelm8Big erscheinenden anarchistischen Magazin in

der turkischen Geschichte. KARA stellte (naturlich) das aligemeine

Staatsverstandnis in Frage und beschaRigte sich ua. mit Themen wie Erziehung und

Schulwesen. Gleichzeitig wurde das Individuum zu selbstverantwortlichem Handeln

und zur Beendigung ffequemer Passivitat und Autoritatshorigkeit aufgefordert.

KARA machte SchluB mit der Ideabsierung der Arbeiterklasse als revolutionarem

Subjekt mit historischer Mission und aKackierte die grundlegenden Glaubenssatze

von Steat, GesellschaR und vermeintlichen Revolutionarlnnen radikal So pivvendig

diese Haltung war, so wenig trug sie jedoch den tagespolitischen ptedurfnissen

Rechnung Den desorientierten Ex-v.arxistinnen-Leninistinnen pt die

anarchistische Bewegung keine alternative Organisations~glichkeit, und die

wichtige Frage des kurdischen Befreiungskampfes blieb ne perspektivische Idee

und konkreten Gegenentwurf So wurde KARA fi~fch der zwolRen Ausgabe im November

1987 eingestellt, derweil sich auch ine machtige Konfusion und Zersplitterung

unter ihren groBtenteils studentischen Unterstutzerlnnen eingestellt hatte. (Als

Ausleger von KARA waren noch zwei Ausgaben von kara sanat, einer kunstlensch

ambitionierten ZeitschriR mit den Schwerpunkten Okologie und P9dagogik

erschienen.) Vier autonome Gruppen bildeten sich aus den Uberresten i~RAs, von

denen eine das ndchste ZeitschriRenprojekt EFENDiSiZ therrschaRslos) startete,

das an KARA anknupRe. Auch die anderen G~uppen initiierten weiter Dinge, und

eine von ihnen begann das .Af61yeA-PrvjeEf, das Spater die ZeitschriR AMARGi

(sumerisch: Freiheit) herausgab.

 

 

Im Jahr 1989 wurde auch EFENDIStZ eingestellt und bis 1991 gab es keine eigene

anarchistische ZeitschriR mehr in der Turkei. Dennoch gfog d~e anarchistische

Publizistik weiter. Das tnteresse am Thema war geweckt, und vergleichbar der

Nach-68er-Zeit in Deutschland begannen ein~ge nicht-anarchistische Ver age,

anarchistische Bucher zu produzieren So erschien im.Mefis-Ver.fag das

zweibandige Buch des US-Historikers Paul Avnch mit Portraits von Anarchistinnen

in der Russischen Revolubon.

Zusammen mit der Veneinigung gegen den Kneg" bfidete das Ato/yeA-Pnvjekr 1992

die Amargi-Gemeinschafl- und brachte als solche die unregelm9Big erscheinende

MonatszeitschriR AMARGi heraus. Im folgenden Jahr wurde ein neues

anarchistisches ZeitschriRenproJekt * istanbul fns, Leben ,g,er,ufen: ATES5

HIRSIZ~ ( Feuerdieb~, e,~

Yaymlart.

ANARGi und ATES HIRSIZI unterschieden sich aber von Anfang gnundlegend. Erstere

besch9Rigte sich vor allem mit PazfFsmus Antimilitarismus sowie dem Widerspruch

zwischen Individuum GesellschaR, wahrend die Feuerdiebe das Problem der SOZf

Revolution die kurdische Nationalffage und das Organisationsproblem den

Mittelpunkt stellten und sich grundsatzlich gegen den Pazifismu wandten.

Dennoch schlug AMARGi im Sommer 1994 die von alien anarchistsrAt Richtungen

gemeinsame Herausgabe einer neuen ZeftschnR

tagespolitischen Themen vor. Obwohl die Amargi-Gemeinschaft die

Grunderlnnenrunde, zu der auch eine Gruppe aus Ankara gehorte, verlieB, Inahm

das ProJekt in dem Magazin A-POLiTiKA (f~-politisch) Gesta.`t an, das ,boute

noch existiert (letzte Ausgabe: Mai 1996). Fatalenweise wurde die ~eue

ZeitschriR aber kein an tagespolitischen Fragen onentiertes Organ sondern

wiederum eine TheorieschriR, die sich mit den Fragen von Orqanisation und

Kampffichtung beschdRigte.

Menschen das Feuer brachte, dafur aus dem Gotterhfmmei Oly,^~ ~ ' ~ln ~r | I

trl,C i

verstoBen und zu ewigen Qualen an eine Felswand gekettet wurdel v A. ~f/\fillL

Gleichzeftig grundete eine andere Gruppe den anarchistischen Verlag ,8're

. Mai 1993 traten die Anarchistinnen zum ersten Mal massiv mit rzen Fahnen und

Transparenten auf der Demonstration in Istanbul ra und Izmir auf, und stieBen

auf einhellig groBes Interesse. Dies I die neue Gruppe, die niemand so richtig

einordnen konnte, mit tgedfchtem S'ngen, Tanzen auf der StraBe, Hupfen, frechen

Parolen ftzfgen Spruchen im Kontrastprogramm zu den holzern wirkenden atischen

Gruppen stand und die Lacherlnnen auf ihrer Seite hake. Der erksamkeitswert des

neuen Phanomens war so groB, daG eine Relhe rlicher Medien breit berichteten und

so ein weiterer Propagandaeffekt e Prasenz von Anarchistinnen in der Turkei

zustande kam. Tatsachhch ten bis jetzt immer wieder burger.'iche BlaKer oder

Sender in groBer chung uber anarchistische Aktivitaten.

die Repression des fur' seine Brutalitat und RechtsmiBachtung nnten turkfschen

Polizeiapparates hielt sich bisher in Grenzen. Die hfstische Gruppe in Ankara

wurde zwar einmal drei Tage in HaR mmen und intensiv verhort, aber im groBen und

ganzen fair elt. Naturlich mul3 mensch mit der Generalisierung socher ngen

vorsichtig sein, da Leute, die in der HaR miBhandelt wurden, oR Furcht in der

Offentlichkeit daruber schweigen.

Fofrtsetrung des A'ftikels Im nachsten Monatt

 

Interessant ist, daG sich auch einige Personen des offentlichen Lebens

mittlenweile als Anarchisten bezeichnen. So beispielsweise ein bekannter Sanger

und mindestens ein Philosophieprofessor der Uni Mimar Sinan, tstanbul, t)mer

Naci Soykan, der sogar schon fur Ate,s H'rs~z~' geschrieben hat. Es gibt auch

eine Reihe anarchistischer Musiker, wie den Lead~anger der Laz-Rockband, Zugas/

Bere,oe (Alt-Laz . ist eine georgisch-griechisch-u.a.m. Mischsprache, Sprache

der Volksgnuppe der lasen~. heute turkischer Dialekt mit Laz-Einsprengseln). In

Deutschland bbt der anarchistische Liedemmacher Ya,sar Kurt.

Sogar die Entsprechung zu den christlichen Anarchistinnen des ~tendlandes gibt

es in der Turkei: ,Islamische Anarchist/nnen'. Diese pchten Ende der 90er Jahre

mit Happenings wie Ankettungen auf sich ~uhnerksam. Ihr Motto ist: ,,Es gibt nur

eine Autontat Allah!' Ob Religiose -,edoch tatsachlich als,Anarchistinnen"

angesehen werden konnen, daruber aerden sich die Geister wohl noch die ndchsten

drei Ewigkeiten streiten. Einer der prominentesten Mitglieder besagter Gruppe

ist ubrigens ein tehannter SchriRsteller, Nihat Genc, der in Deutschland

aufgewachsen sein sol. Er hat drei bis vier Romane veroffentlicht. AuGerdem gab

es in Ankara oin bis zwei Ausgaben einer ZeitschriR der Gruppe mit Namen ,ryete.

(etwa: Bande, Banditen).

~ s zwei weitere ZeitschnRen mit stark libertarem Einschlag sind die

LiteraturzeitschriRen Beyaz (seit 1982) und gopebe (seit 1995) zu nennen

lerweile sind weitere libertare Verlage gegrundet worden, wie z.B. .Kaos n/arr,

der Verlag der ,,Feuerdiebe'. Eine beachtliche Anzahl rchistischer Bucher sind

erschienen oder stehen im Begnff veroffentlicht

zu werden. Ohne den Anspruch auf Vollstandigkeit erheben zu wollen, seier hier

beispielhaR einige der wichtigsten genannt

Der kurze Sommer der Anarchie' von Hans Magnus Enzensberger hat ^ der Turkei

eine ahnlich bedeutende Wirkung, wie ehedem und immer nocn im deutschen

Sprachraum Viele Menschen erfahren uber ihn zum ersten Mai von relevanten

revolutiondren Massenaktionen der Anarchistinnen und beginnen Interesse an

weiteren Informationen zu zeigen, insbesondere uber Verlauf und Wirkung der

Spanischen Revolution. So ist gerade eben auch. das Werk von Abel Paz ,Dunub,

Ein Volk M Waffen' erschienen. Aber auc~ Emma Goldmanns Lebenserinnerungen,

,,Die Machnovvtschina~ von Arshinov und das aktuelle Manifest des Unabombers'

aus den USA stehen oben auf der Hitliste. Zudem sind eine Reihe Buchern und

Broschuren vo~ turkischen Autoren zu verschiedenen Themen erschienen, einige

davon im Karambol-Ven'ag in London, dem wichtigsten turkischen A-Exilveriag Eine

vollstandige Liste der zur Zeit erhaltlichen Bucher aus anarchistschen

turkischen Verlagen mit Preisen und Bestellmoglichkeiten findet sich aEnde

dieses Artikels. Dennoch ist das nicht alles. Auch in einigen burgerlichen,

liberalen und linken Verlagen sind anarchistische Tne erschienen so z.B. drei

Bucher von Murray Bookchin und Werke des libertgren WissenschaRskritikers Prof.

Paul Feyerabend, der 1995 gestorbe ist. Hier geht die Rezeption sogar bis in

rechte Kreise,

VeroffenUichungen konservativer Bidtter uber den Autor beweisen. Ei

ge~lauc mull~aluIty ~c~ wissenschaRiichen Bearbeitung vorbehaiten bleiben.

Festzustellen bleibt jedenfalls, daB zur Zeit auf allen Ebenen ein ungeheu

Ideentransfer in die Turkei stattfindet und man allen Ernstes von ei

Rezeptionsrausch' sprechen kann. Seibstredend ist dies nicht anarchistische

Themen begrenzt, sondern umfallt nahezu alle Geb

soz~aler, philosophischer, kultureller und technischer Diskussion Dies deutet

darauf hrn, dai3 s~ch die turkische GesellschaR in einer auilerst dynamischen

Phase ~hrer Entwicklung befindet und fur die Zukuntt grolle Umwalzungen zu

enwarten sind Besonders spannend durfte an dieser Stelle die neuerliche

gegenseitige Befruchtung morgenldndischen und abendldndischen Denkens

Die Lage der Anarchistinnen in der Turkei Ende 1996 ist davon

kennzeichnet, dai3 sie in einem Land leben, in dem ein erbarmungsloser

rgerkneg mit volkermorderischen Tendenzen tobt, der von den

TO-Partnem der Regienung toleriert und mit modernen

ssenvernichtungswaffen bestuckt wird. Der mdnnliche Teil der

dikenung w~rd als Kanonenfutter fur diesen Krieg millbraucht, an dem vor

ern d~e USA und die BRD als die groliten Waffenlieferanten profitieren.

gesehen von den krassen Menschenrechtsverietzungen in der kurdischen

iegsregion mussen turkische Menschen das Militar- und Polizeisystem

er Pseudodemokratie ertragen, in dem VerhaRungen ohne Anklage

an~pulierte Gerichtsverfahren, Foiter und Verschwindenlassen" an der

agesordoung sind Heer, Polizei, Verwaltung und Politik sind zudem

arrupt b~s auf d~e Knochen und, wie ein Verkehrsunfall Anfang November

996 ze~gte (ein Abgeordneter der islamistischen REFAH-Pante/ ein

ee/chef und ein seit 18 Jahren durch Inter,ool gesuchter rechtsradikaler

1Dnk/ller verungluckten im selben PKW, der mR Waffen und Abhorgeraten

is~en war, nach einem fidelen Hotelbesuch, wo sie anscheinend auch mn

Innenminister ein Date hatten), mit dem organisierten Verbrechen und

chts-Terrorismus auts Engste verfiochten. Unter der demokratischen

sade hbit nach wie vor das Mditgr die Zugel in der Hand das in seiner

chffulle zum~ndest solange nicht reduziert werden wird, wie der Kneg

gegen die Kurden dauert. Gleichzeitig existieren nach wie vor mit dem Staat

verquickte, faschistische Morderbanden, die ebenso w~e fanabste~ Muslime der

sog. Fundamentalisten Jagd auf Andersdenkende mach~ Linksradikal sein ist in der

Turkei mit Gefahr fur Leib und Leben verbunden

An der Oberfl8che erblicken wir eine anscheinend mit demokratischen

Institutionen ausgestattete GeselischaR und ein in den Metropolen westeuropaisch

gepragtes Leben mit onentalischen Einsprengsein. Das Leben ist gesch9Rig und

ldnt im Alltag kaum etwas von den Konflikten unter der Oberfl9che oder dem nur

wenige hundert Kilometer enffemten Kriegsschauplatz ahnen. Das Vorbild der

Polizei ist offenbar der US-Shenff wie auch das staadtische Umfeld starke

Merkmale eines US-onenbenter Konsum- und Kulturlebens autweist. Riesige

Reklametafeln, Fasffoodtempel mit McUniformierten, Malls und EinkaufsstraBen,

Regale mit auffallent vielen Produkten aus dem Westen, vor allem der BRD, lassen

den Eindnadti auflkommen, daB das offentliche Leben vor allem an westlichen

Normen orientiert ist Dazwischen immer wieder das Rufen der Muezzins zum Gecet

das nachhaltig an den religiosen Hintergrund der GesellschaR ennnert.

Auffallend ist auch, daS die REFAH-Partei als islam~stsche Protestpane geschickt

mit sozialistischer Symbolik hantiert (Halbmond statt S~chel, Ahren statt

Hammer), was mich als Deutschen an ein entsprechendes Vorgehe' der Nazis

erinnert.

In der Turkei gibt es Ende '96 nur zwei namentlich bekannte anarchistisc Gnuppen

eine in tstanbul und eine andere in Ankara. Dennoch ist die Id des Anarchismus

anscheinend sehr popular, vor allem unter jungen Leu In allen Landesteilen soll

es Sympathisantinnen und lockere Gruppen FreundschaRsbasis geben. Allerdings

hatten die Genossinnen auch e/n kritische Bemerkungen zu einem

~Lifestyle-Anarchismus~ parat, der ~ vielen Leuten, vor allem von (Macho-)Typen

so interpretiert werde: ~sich u nichts kummern viel saufen, kiffen, Musik horen

und mo~qlichst viele Frau vogeln~. Diese Kategorie ~Anarchist~ sei

weitverbreitet.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dal3 einer der Schwerpu anarchistischer

Politik in der Turkei die Bekampfung des Patriarchalismu allen seinen Formen

ist. Bemerkenswert ist, daG die Zusammensetzung beiden organisierten Gruppen zu

50% weiblich sein soll. Das Interesse anarchafeministischen Positionen ist

stark, aber bekanntlich ist das Ang an Literatur ja auf diesem Gebiet eher

schwach, so daf! eher auf aligemeinen Positionen des Feminismus differenziert

zunuckgegri werden mun Wenn auch in Istanbui der Eindruck vorherrscht, daG hlann

die (?) Worffuhrer sind, ist doch zumindest deren Bereitschaft ausdnidd

vorhanden, gegen patriarchales Verhalten und patrrarchale Sbrukb

anzugehen. Immerhin,kamen mir wahrend meines kurzen Aufenthaltes bei ~ren

Freunden doch mehrere Frauen zu Gesicht jedoch hatte ich aus ~runden und z.T.

auch wegen Sprachbarrieren nur wenig Gelegenheit stmehreren von ihnen zu reden.

kach den Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte mit illegalen b~Yaffneten

Bewegungen in der Turkei, ist die Strategie der jetzt ~cstrerenden Gruppen

stnkte Legalitat - naturlich soweit mensch nicht stl~ch knmmalisient wird. Die

Gruppen begreifen sich in erster Linie als rcnagandagruppen zur Popularisierung

der anarchistischen Ideen Sie sind ~ Uberzeugung, daS eine illegale Arbeit nur

zu staatlicher Paranoia und zu Uberreaktionen dieser Seite fuhren wurde. Das

heillt nicht, sich publizistisch aul verbreten zu lassen. Hier werden

unvermeidliche Risiken in Kauf enommen Dre Turkei ist ja bekanntlich nicht

gerade ein Hort der

-- Grundprinzip der Arbeit ist absolute Drogenfreiheit im weiteren Sinne

h,agsdrogen wie Alkohol oder Tabak schlielit das nicht ein (leider- hust') D rch

Drogen wurden die Leute schlapp, unzuverlassig und von der Polizei ~t- und

erpressbar. Das hat was fOr sich. Und zum Gluck wirkt sich das ar mcht so aus,

daG w/r es hier mit klostergleichen Asketinnen zu tun n Dennoch konnte ich sogar

harte verbale Auseinandersetzungen a Cannab~sgenuf! registrieren.

no war eine fur mich uberraschende Grundhaltung der Technik wber: s~e wird von

beiden Gruppen als notwendiges Ubel angesehen rn l~chterer Zukunft abzuschaffen

sei. Industrie und Stddte sollten lefft und der Weq zuruck aufs Land und in die

Natur gehen Das

~che Idyll wird als utopische Wohnform angesehen, naturfich befreit von eutfgen

Engsbrnrgkeit und jeder anachronistischen Moral. Als nenschrftt musse mensch

zumindest Teile der Stadt einfach abreiBen

outer und ahnbches Teufelszeug des Kapitalismus wurden in ZukunR tweg

uberflussig, wenn die Menschen wieder von der eigenen nemdeten Hande Arbeit

leben wurden. Eine solch direkte Produktion

ege Jegifchen Konsumismus aus. Wie mensch an der ironischen fahl des Autors

merkt kann sich dieser jener Sicht der Dinge nicht anschhegen. Auch m den USA

kursiert zur Zeit eine Diskussion uber Dosnfven anarchfstischen ~Primitivismus~

der Zukunft. Dies ist also aus kem Spezff kum der Turkei, und ich kann mich

entsinnen daR wir

etwa funfzeNn Jahren eine dhnliche Diskussion in deutschen und ~n europafschen

Landen fuhrten - mit dem Ergebnis daG heute u alle Projekte mit Computern

arbeiten, wie ja auch die turkischen

 

Genosstnnen. Dabei will ich nicht ausschliellen, dal3 es gute Argumente li

eine solche Lebensform geben konnte. Ob sie allerdings von allen mach~

oder auch wunschenswert ist, halte ich fur durchaus ungekldrt. Nicht we,

wird zu dieser Utopie der Sience Fiction Roman der US-Anarch`3g,femfnfs,

Ursula K. Leguin, ,,P/anet der Habenichtse" (Heyne SF 3505) befgetrage.

- haben, der nicht nur be~ t motivierend (gewesen) fst.

ine grone Hoffnung ist fur viele Anarchistinnen in der Turkei auch

Freiheitskampf des kurdischen Volkes Als lange vernachlassigte Pro

der Turkei sind viele autoritare Strukturen bei den Kurdinnen nicht

ausgepragt vorhanden. Aullerdem ist noch einiges vom traditioneRen E

und Leben erhalten. Eine grolle Anzahl von kurdischen Menschen

mittlenweile mit anarchistischen Ideen in Beruhrung gekommen und s

ihnen aufgeschlossen gegenuber. Viele Anarchistinnen in der Turke'u

auBerhalb sind Kurdinnen Es existiert die Erwartung, daB der Konfl'kt

Kurdistan uber kurz oder lang in der einen oder anderen Art von Kompro

enden wird. Die nationaie Befreiung wird dabei durchaus kritisch geseh

die stalinistische PKK ist nicht gerade an der Spitze der Beliebtheitss

unter den Kurd nnen und wird vielerseits nur als das ,,kleinere U

angesehen, aber eben als Ubel Es gibt zu ihr keine Aiternative Gewi

Anzeichen sprechen uberdies dafur, daB sich die PKK infolge der Brefte

ffffffU; Bewegung ebenso wie aufgrund der tagespolitischen Anforderungen

fri- einem Wandel zu mehr Demokratie und Mitsprache befindet. Es w~rd

Einschatzung vertreten, daB eine stalinistische PKK n

friedensvertragsfahig und verhandlungsfahig ist. Fur den Fall eines wie a

immer geafteten Fnedensschlulles erhoffen sich die Anarchistinnen

fast schlagartige Verbreitung ihrer Ideen in Kurdistan, die zur Zeit unter

Kriegsbedingungen nicht moglich ist. Der OpUmfsmus fm Bezug auf

starke kurdische anarchistische Bewegung und einen moghchen E'nRu3

die Neuformierung einer autonomen kurdischen Regfon fst grol3.

Grol3 ist auch der Optimismus im ailgemeinen: ,,Du wirst sehen, die Tu

w/rd e/n neues Spanien! Ja mehr a/s das! /ch bin da ganz zuversich

sagte mir einer der Genossen in Istanbul.

 

Wenn ich auch mit der Zumessung meines Optimismus etwas vorsichtiger , so bm fch

doch der Mefnung, daS diese Vision vielleicht nicht ganz aller undlagen

entbehrt.

 

Wenn wir heute die Situation der turkischen Anarchistinnen betrachten so s~e eng

mit der unseren venwoben. Mil.'ionen von turkischen und rdfschen Menschen ieben

in diesem Land, viele von ihnen aus politischen nden Wahrschemifch gfbt es in

und aus keinem anderen Land als der desrepubhk Deutschland eine derartig groBe

Chance und besondere hchke~ten, unsere turkischen Genossinnen zu unterstutzen.

Durch die tfaltung unserer eigenen Aktivitat hierzulande konnen wir auch viele

~sche Menschen mit unseren Ideen in Beruhrung bringen und diese zur pOskion

stellen Durch die immer noch starke wirtschaRiiche Lage der und das daraus

folgende W8hrungsgefalle sind wir in der Lage, auch nge matenelle M'ttel fn der

Turkei mit den dort lebenden Genossinnen ktfv emzuseken (Bucher kosten dort nur

einen Bruchteil des hiesigen tellungsprefses). Diese Unterstutzung ist um so

wichtiger da sich onalchauv' m stsche, faschistische und

islamisch-fundamenta.'istische fse dfesen Umstand schon lange zu Nuke machen Als

bm~htarist/nnen sollten wir an erster Stelle Mannern turkischer 1:

atsangehorigkeit behilflich sein, sich dem Zupriff der vOlkermorderischen

r amanila zu entzfehen. Und nicht zuletzt gilt es, zusammen mit i

eren turkfschen Genoss/nnen, eben jenen nabonalen und internationa.`en ~ ,

hfsmus und Rassismus zu behampfen, der uns taglich hier wie dort jns '

s steht und dessen Ziel hier oR genug Menschen turkischer HerkunR

Wenn wfr dem gemeinsam unseren Entwurf einer gewaltlosen und i I

chaftsfreien Gesellschaft entgegensetzen konnen werden f I

ationale Solidaritat und die Auflosung patnarchaler Strukturen von der ~ !

 

 

 

ase zur konkreten Utopie